Christian-Geissler-Gesellschaft e.V.

Wird Zeit, dass wir leben

Auf den ersten Blick war alles nur Literatur. In seinem Roman „Wird Zeit, dass wir leben“ (erstmals erschienen 1976) hat der Hamburger Schriftsteller Christian Geissler (1928-2008) erzählt, wie sich in seiner Heimatstadt und auch in Schleswig-Holstein vor und nach dem Januar 1933 Widerstand formiert hat. Er erzählt von Elend und Kampfeswillen „zwischen Himmelstraße und Hansaplatz“, von Mietwucher und Wohnunsgsräumungen, von Streiks in der Billstedter Jute und der Landvolkbewegung gegen überhöhte Steuern (siehe auch Hans Fallada: „Bauern, Bonzen und Bomben“). Zu seinen Helden gehören GenossInnen der KPD, Draufgänger und Wanderern zwischen den Welten, aber auch „Pudel“ vom Hansaplatz, die auf ihre Weise den Kampf unterstützt. Der Roman bildet eine Topografie des proletarischen Widerstands in Hamburg – und mittendrin die Figur des jungen Polizisten Leo Kantfisch, der im Verlauf der Handlung die Seiten wechselt und am Ende des Romans mit einer kleinen Gruppe von Mitstreitern einen inhaftierten KPD-Funktionär aus der Untersuchungshaft befreit. „Wird Zeit, dass wir keben“ bedeutet: Wird Zeit, dass wir kämpfen, dass wir unsere eigenen Geschicke in die eigenen Hände nehmen. Leben und für das Leben kämpfen ist aber immer auch mit eine ungeheueren Lust verbunden: Mit Liebe, Lust am Streiten, Diskutierren, Handeln! Das macht den Roman so frisch und hebt ihn aus seiner Zeit heraus, macht ihn auch heute zu einem Ereignis.

„Ausgangspunkt“ überschreibt Geissler seine kurze Vorbemerkung, die er unter das Personenverzeichnis gesetzt hat und erklärt, dass er in einer Broschüre der VAN (Vereinigung der Antifaschisten und Verfolgten des Naziregimes) den „Hinweis auf einen Hamburger Polizisten, der, 1933/34 eingesetzt als Wachmann für das Untersuchungsgefängnis, versucht hat, politische Gefangene zu befreien.“ Es war die Fußnote auf Seite 48 der Broschüre „Fiete Schulze oder Das dritte Urteil“. Fiete Schulze gehörte zu den führenden Kräften des Hamburger Widerstands und wurde bereits im April 1933 verhaftet. Wer dem Hinweis Geisslers und dieser Fußnote folgt, landet mitten im realen Leben des Polizisten Bruno Meyer, eines mutigen jungen Mannes, der 1934 den Plan gefasst hat, Fiete Schulze und mit ihm den ebenfalls verhafteten KPD-Bürgerschaftsabgeordneten Etkar André aus dem Gefängnis zu befreien. Der Plan flog auf, Meyer wurde verhaftet und saß selbst in der Zelle, als Fiete Schulze im Juni 1935 draußen im Hof hingerichtet wurde. Das Urteil und seine Vollstreckung gelten als einer der ersten Justizmorde der Nazis und lösten eine internationale Welle von Protesten aus. Bruno Meyer wurde vom Volksgerichtshof in Berlin zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt, kam nach der Haft ins KZ Sachsenhausen und wurde dann ins Bewährungsbataillon Dirlewanger eingezogen und an die „Ostfront“ geschickt.

Dieser reale Hintergund des Romans war bis zu den im Nachwort seiner Neuausgabe präsentierten Entdeckungen unbekannt. Auch Geissler hat die Spuren zu ihnen nicht allzu deutlich ausgelegt. Sein Roman atmet die politische Aufbruchstimmung der 1960er Jahre. Die Kämpfe gegen die Wiederbewaffnung der Bundeswehr, die Notstandsgesetze, den Kolonialismus und den Krieg in Vietnam gehörten zu den aktuellen Hintergründen dieses historischen Romans – genauso wie die Anfänge der RAF und die Befreiung Andreas Baaders aus der Haft, die damals durchaus mit erkennbarer Sympathie begleitet wurden. Geissler lies die Aktionen seiner Helden gut ausgehen!

Heute wird über Widerstand und unvermeidbare Gewalt gegen Gewalt von oben anders debattiert als dann im Deutschen Herbst. Freiheitskämpfer – wo immer sie sich gegen despotische Regime erheben – werden geachtet und auch der Hitler-Attentäter Johann Georg Elser in Berlin mit einem Denkmal geehrt. Zum 5. Todestag Christian Geisslers macht die Neuausgabe des Romans „Wird Zeit, dass wir leben“ einen großartigen Roman des Hamburger Widerstands wieder zugänglich. Zugleich geben der Roman und sein Nachwort dem widerspenstigen Helden Bruno Meyer seinen verlorengegangegen Platz in der Erinnerung zurück!

Christian Geissler
Wird Zeit, dass wir leben. Geschichte einer exemplarischen Aktion
Mit einem Nachwort von Detlef Grumbach
358 Seiten, Leinengebunden
22,00 €, Verbrecher Verlag 2013

Vorzugsausgabe mit einem Holzschnitt von Jean-Jacques Volz


„Wird Zeit, dass wir leben“ in den Medien

Jochen Schimman in der Taz

Viel Platz hat die Taz am 13. Januar 2014 dem Schriftsteller Jochen Schimmang eingeräumt, um über Geisslers Roman „Wird Zeit, dass wirt leben“ zu schreiben.
Wir wollen das hier nicht auf wenig Platz eindampfen.
Lesen Sie selbst: Ein Mangel an Gemütlichkeit – Jochen Schimmang über „Wird Zeit, dass wir leben“.

Helmut Böttiger im Deutschlandfuk Büchermarkt

Helmut Böttiger hat den Roman am 17. Januar 2014 im Deutschandfunk Büchermarkt besprochen. Seinen Beitrag finden Sie hier:
Nüchternes und karges Kunstgeflecht – Helmut Böttiger im Büchermarkt.

Thomas Schumacher in der Taz Hamburg

Thomas Schumacher wendet sich in der TAZ Hamburg dagegen, Christian Geissler auf den „RAF-Autor“ zu reduzieren. Er schreibt über „Wird Zeit, dass wir leben“:

„Von solchen Büchern wird gesagt, sie seien schwer zu lesen. Dos Passos, Döblin und Peter Weiß entwerfen ähnliche literarische Muster. Geissler konstruiert seine Sprache mit Collagen, musikalischen Rhythmen und Assoziationen. Zeitlebens blieb Geissler bei seiner Methode, Sprache zu zerspleißen. Er misstraute ihr. Gegen eine von den Nazis missbrauchte Sprache musste Geissler schreibend Widerstand leisten.“

Thomas Schäfer in Konkret

Im auch sonst sehr lesenswerten September-Heft der Zeitschrift Konkret bespricht Thomas Schäfer Geisslers Roman „Wird Zeit, dass wir leben“.

In seiner Besprechung heißt es unter anderem:

«Es ist etwas ungerecht, ausgerechnet den Dichter Krischan Pietsch zu zitieren, eine Figur, mit der es ihr Schöpfer Christian Geissler nicht gut meint, ist Pietsch doch ein ängstlicher undopportunistischer Salonlinker. Doch etwas vondessen ‹schön fein hoch rausgedachtem› Stil eignet auch der Sprache Geisslers, einer stark rhythmisierten, assoziativen Kunstsprache: ‹Schlosser stand stur und klar, den Mund schräghoch gegen das Wasser, das Herz gegen Hexenglück,los, ran, ‚hört mal zu‘, nämlich Klassenfront durch die verschiedenen Schichten.› (…)
Geissler schildert vor allem die Konflike innerhalb der Hamburger Kommunisten Ende der Weimarer Republik: auf der einen Seite der ‹Parteiarbeiter› Schlosser, der sich loyal den ‹Leitungsbeschlüssen› fügt, auf der anderen Seite jene, die zu ‹provokativen Einzelaktionen› neigen, das heißt auch zur Gewalt, und deren anarchischer Lebenshaltung eindeutig Geisslers Sympathie gehört: ‹Wird Zeit, daß wir leben› ist nicht zuletzt eine programmatische Losung, die auf das Klima Mitte der Siebziger verweist, nichts Geringerem nachforscht als dem Sinn dieses Lebens und beharrlich fragt: ‹Aber dein Sterben, wann fängt das an?›»

Freies Senderkombinat Hamburg / Gespräch mit Detlef Grumbach (mit O-Tönen Christian Geisslers)

Das Freie Sender Kombinat Hamburg hat ein ausführliches Interview mit Detlef Grumbach über den Roman „Wird Zeit, dass wir leben“ geführt. Es dauert eine halbe Stunde:

Christian Geisslers in den 1970er Jahren geschriebenes Buch „Wird Zeit, dass wir leben“, die Geschichte eines Polizisten, der zu Beginn der 1930er Jahre vom Schließer zum Gefangenenbefreier wird, ist jüngst im Verbrecher Verlag in einer Neuauflage erschienen. Detlef Grumbach, der das Nachwort der Neuauflage geschrieben hat, spricht im Interview über die historischen Vorbilder des Romans, z.B. über Bruno Meyer, den Menschen, an den Geissler den Protagonisten Leo Kantfisch angelehnt hat, über Christian Geisslers Sprache und über den gesellschaftlichen Kontext, in dem der Roman zunächst erschienen ist. Das Interview beginnt und endet mit O-Tönen von Christian Geissler.

Jan Ehlert im NDR

Jan Ehlert schreibt für den NDR unter anderem: „Dass der Verbrecher-Verlag Geissler nun eine Werkausgabe widmet, ist daher wichtig und sehr zu begrüßen – als Teil der deutschen Literaturgeschichte. Und wenn man Geisslers Texte heute liest, dann scheint seine Weigerung, die Augen vor dem eigenen sinnlosen Tun zu verschließen, immer noch aktuell. (…)  In „Wird Zeit, dass wir leben“ wandelt sich Leo vom Schutzmann zum Revolutionär, von demjenigen, der Menschen ins Gefängnis steckt zu einem, der sie dort wieder herausholen will. Angelehnt hat Geissler seinen Roman an den Fall des Hamburger Polizisten Bruno Meyer, der 1935 zwei Widerstandskämpfer befreien wollte. Im ausführlichen und gut recherchierten Essay erzählt Detlef Grumbach die Geschichte hinter dem Roman – im Buch als Nachwort hintangestellt. Doch diesen Text sollte man unbedingt zuerst lesen – dann wird es einem ein bisschen leichter fallen, den Roman von Christian Geissler zu verstehen.“ (Sendedatum 26. Juni 2013, 16:20 Uhr)

Salli Sallmann Im RBB

Salli Sallmann meint im RBB Kultur, man müsse die Romane Geisslers „lesen als Versuche der Selbstklärung, Selbstfindung“ und findet die Neuveröffentlichung von „Wird Zeit, dass wir leben“ – die Sprache bezeichnet er als „schroff und kantig“ – auch wegen der Haltung wichtig, die das Buch ausdrückt: „dass wir kämpfen müssen, den Mund aufmachen, ganz allgemein unsere Meinung sagen, Zivilcourage leben“. (Sendetermin: 23. Juli 2013)

Lower Class magazin

Christian Geisslers „Wird Zeit, dass wir leben“ wurde auch vom Lower Class Magazin besprochen!

Pressestimmen zur Originalausgabe 1976

„Wie bringt einer fünfzig Personen auf knapp 230 Seiten zueinander, gegeneinander und miteinander in Aktion? Und das ohne den tragenden und gelegentlich trägen Rahmen, der Familienromane und Sagas zusammenhält? (…) Kein Wunder, kein Trick, es ist der Stil, der Aufbau, das Tempo, die balladenhaft-lyrischen Präzision und Konzentration, mit der hier sozialkritisch-realistisch ausführliche Beschreibungen vermieden werden.“
Heinrich Böll / Die Weltwoche, 16.3.1977

„Das Buch ist politisch – in seiner Ästhetik: keineswegs nur, wo es von Politischem handelt (…), das Buch ist vielmehr auch dort politisch, wo Handeln Sprache, wo die Sprache durch Handeln gesprengt wird – mit sprachlichen Mitteln. Ein politischer Roman also, zugleich hochartifiziell. Ein schwieriges Buch und ein wichtiges.“
Martin W. Lüdke / Die Zeit, 12.11.1976

„Geissler ist der meiner Meinung nach gegenwärtig einzige Schriftsteller in der Bundesrepublik, der radikale politische und moralische Intentionen zu ästhetischen methodisch in unmittelbare Beziehung setzt. Dieser Roman fällt auch literarisch aus dem Rahmen, ist auch als Roman außerordentlich. Das ist nicht zuletzt begründet in seiner sprachlichen Originalität, die er aus der Alltagssprache der kleinen Leute Kraft holt, sie systematisch auf eine das Konkrete greifende Kunstsprache hin verknappend. (…) Diese literarische Apotheose der Gegengewalt ist mit dem allen keine Apotheose der Gewalt. Sie ist glaubhaft und packend eine Apotheose des Friedens. Nur eben nicht des untertänigen, faulen und falschen Friedens, wie ihn die Nazis in den ersten Jahren ihrer Herrschaft erzwangen.“
Heinrich Vormweg / Süddeutsche Zeitung, 9.12.1976

„Weder begnügt er sich (…) mit einem reportagehaften Realismus, noch läßt er sich dazu verleiten, über geschlossene Heldenfiguren entlang einer Parteilinie zu schreiben und die Widersprüchlichkeit des politischen Kampfes, der Haltungen, Einsichten und Aktionen zu unterdrücken. (…) Geisslers Buch beschreibt das allmählich sich entwickelnde Verständnis von wenigen, die sich im Bewußtsein ihrer Niederlage, ihres verkürzten und verstümmelten Daseins mit einer Aktion den Weg ins Freie verschaffen.“
Wilfried F. Schoeller / Frankfurter Rundschau, 18.9.1976

„Geissler hat seinen Stoff ausführlich recherchiert, in sein Buch sind Dutzende von Lebens-, Aktions- und Kampfberichten alter Genossen eingegangen, die sinnlich und anschaulich alle Aspekte eines Lebens schildern, das keins ist und so verzweifelt intensiv eins werden möchte: eins das Sinn hat, Spaß macht und lohnt.“
Yaak Karsunke / konkret, 01 – 1977

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