Christian-Geissler-Gesellschaft e.V.

Sturmflut ’62 im „Brot mit der Feile“

Es gibt viele Gründe, den Roman „Das Brot mit der Feile“ zu lesen. Die Intensität, mit der Christian Geissler die Erlebnisse von Ahlers (19672 beim Bund) und dem Arzt Bantumak in der Nacht der Sturmflut 1962 erzählt, ist einer unter vielen. Hier wird auch geografisch ein Stück Hamburg lebendig, das es längst nicht mehr gibt. Auf dem Maakendamm haben viele Leute in Arten von Schrebergartenbuden oder auch kleinen Häuschen gewöhnt, die Arbeiterwohlfahrt hatte hier ein Kinderheim, in dem die Kinder aus den armen Familien in Altona und St. Pauli – einmal über die Elbe – Ferien machen konnten.

Ahlers hatte seinen ersten Wochenendurlaub bekommen, ab Freitag nach Dienst, und zu Haus war niemand mehr. Und war rüber zu Bantumaks Maakenbude gefahren, dort in der Nähe war ja auch Merkatt. Gegen den Wind heute hatte sein Moped nur halbe Kraft, aber macht nichts, da hab ich Bock.

Der Maakenwerder Hafen und der Maakendamm 1962. Heute ist die hier die südliche Einfahrt in den Elbtunnel.

Im Freihafen, Veddeler runter und Rossdamm, war freitags, abends nach acht, nichts mehr los, bloß die Schuppen, die Lichter an Kränen und Masten, Jammerwind in den Drähten und Bäumen, Windknall wie vorher noch nie, 16. Februar 62, an Vorsetzen haben sie Wasser im Keller, und nachts kommt bestimmt noch mehr. Das Kopfsteinpflaster stieß ihm den Koffer vom Rad, der Sturmdruck riss den Kasten gleich weiter bis rüber ins Freihafengitter, er lief hinterher, alles Quatsch, das hast du davon, aber macht nichts, mal bisschen Mühe musst du schon machen. Und hatte ja auch alles bestens geklappt. In der Wachbude hatte beim Abmelden keiner in seinen Koffer geguckt, »schmutzige Wäsche«, »hau ab, du Tier!« Aber das war nicht schmutzige Wäsche gewesen, sondern sein Kampfanzug mit den Stiefeln. Den hatte er jetzt kühn an, heimlich hinter den Moldauschuppen. Zivilzeug wollte er nicht. Und die Ausgehklamotten, nee danke. Einmal Straßenbahn reicht.

Aber warum nicht Zivil? Warum den für Urlaubsfahrten verbotenen Kampfanzug?

Ist doch egal. Wennschon, dennschon. Verbieten können die mir hier draußen schon mal überhaupt nichts. Alles bloß Angeberei. Weiß ich.

Und was wäre anzugeben?

Die machen uns fertig. Und das macht dich hart. Und das sollen die draußen hier ruhig mal sehen.

Und noch was?

Musst du mal anfassen, das Zeug. Nämlich richtige Panzerklamotten. Extra für Kämpfe. Und für keinen sonst, bloß für uns. Nämlich wenn ich euch hier so seh, und die andern doch alle auch, kommt mir schon bald vor wie ganz ohne Zeug, in Zivil. Ich nicht.

Und noch?

Solche Stiefel, ist doch ganz klar, das hört man, und schleicht nicht so krank in der Gegend wie alle die andern.

Und?

Was und?

Ahlers versuchte an diesem ersten Urlaubsabend, er war vor allen anderen losgekommen, hatte am besten geschossen, versuchte auszuspielen, was er gewonnen hatte, zum ersten Mal was gewonnen, die Position im Dreck hinter Mauern gegen fast alle, aber abgehakt und unterschrieben und anerkannt, er als Soldat. Er klemmte den Koffer zurück aufs Rad, riss sich die eiskalten Finger an der überstehenden Spannfeder, drückte das Blut in den Anzug. Dafür ist der doch, oder für was? Er bückte sich über die Hose, wollte den Fleck sehen, riss das Feuerzeug an, Scheißwind. Die Hose, der ganze Mann waren hier in der Nacht nur hart und schwarz und sonst nichts.

»Siehst aber gut aus«, sagte Polly, »wie Fidel, ein bisschen. Kommt auch schon Bart?« Ahlers denkt, er kriegt Zucker und Schnaps und Blumenketten um seinen Hals, als Polly, ohne Spott und ohne Lächeln, zu ihm hinkommt und die weichen, helleren Innenseiten ihrer Hände rechts und links an sein Gesicht legt. Mann, ist das schön! Aber er sagt und zieht ihr dabei seinen Kopf aus den Händen: »Die läuten schon Glocken, Bantumak, hör dir das an.«

»Genau das Wetter, um mal die Küste zu inspizieren.« Sie gingen zur Tür, Bantumak packte mit beiden Händen die Klinke, damit ihm der Wind den Griff nicht wegschlüge. Da draußen brach der Nordwest über alles her, was zu kriegen war, schmiss dreckigen Regen drüber, schleppte zerblasen den Ton von Sirenen und Kirchenglocken. »Kann auch einfach nur Übung sein«, sagte Ahlers. Bantumak zog die Tür wieder zu, er hatte im Sog dort kaum Atem zum Reden, »ja, doch«, sagte er bitter, »heut Nacht übt der liebe Gott hier mal arme Leute ertränken, pass auf«. Er hockte sich unruhig unter die Ochsenhaut, angespannt, als wolle er jetzt gleich einen gewaltigen Satz machen. Polly ging weg in die Dachkammer zu den Kindern. Und das Dröhnen der Holzhauswände unter den Stößen der Böen verdeckte zuerst das Torkelreden von Merkatt, dem der Hund voraussprang, lustig und zitternd wie oben die beiden Kinder. »Das Boot kommt mir nun wohl bald ab«, sagte Merkatt, »ist hier noch irgendwo Tampen über?«

Regen und Dreck troffen ihm vom Mantel. Er stellte sich neben den Hund an den Ofen. »Drüben, eben schräg rüber nach Waltershof, die Lauben, bloß grade die zweihundert Meter von hier, da geht das Wasser gleich übern Deich, pass mal auf, kannst du mit Merkatts Boot heut Nacht zwischen die Apfelbaumbuden reinfahren. Und die schlafen noch alle. Was willst du machen. Draußen rum ist schon Wasser. Und ruf mal. Hast bloß noch Rattenwasser hinten im Hals bei dem Sturm.«

Bantumak sagte nach einer Weile: »Für die ganz kleinen armen Budenleute die ganz kleinen armen Deiche.«

»Unser hier hält«, grunzte Merkatt, »den kenn ich.«

»Gehst du mit raus?«, fragte Bantumak, und Ahlers wusste genau, wen er meint, »ganz klar«.

»Wir nehmen das Boot von Merkatt.«

»Und dann hier mal einfach mal weg.«

»So seht ihr beiden auch aus«, sagte Merkatt widerstandslos, und Bantumak ging zur Treppe und rief rauf zu Polly:

»Schmeiß mal die Luftmatratze. Merkatt bleibt hier.«

»Ihr seht da draußen ja nix«, sagte Polly.

»Wen der liebe Gott ertränken will, der schreit, das hört man.«

»Ganz klar.«

»Und Ahlers kann gar nicht schwimmen. Bleibt doch mal hier, Mensch«, sagte sie leise. Bantumak wollte nicht, dass sie an ihm vorbei so mit Ahlers redet, und sagte: »Gehst du mit raus?«

»Ganz klar.«

»Mensch, Merkatt!«, rief Polly gegen den dösigen Alten, »die nehmen dein Boot!«

»Kriegen sie ja auch gar nicht. Hier«, er hielt ihr die Gummimatratze hin, »blas noch mal auf, bin schon ganz fertig von draußen, der Krach von dem Sturm schon den ganzen Tag.«

So einer war Merkatt schon immer: Wo er sah, dass was für ihn gar keinen Zweck mehr hatte, dass da für ihn nichts mehr rausschaut oder, in seiner Sprache, dass da für ihn gar keine Besehe mehr drin ist, suchte er warmen Schutz und ging schlafen. Und hier, heute Abend, wusste er ganz genau, dass Bantumak mit seinem Boot losfahren würde, er kannte dessen blasses, schönes Gesicht schon lange, guck ihn dir an, er will sterben, hatte er früher schon mal zu Polly gesagt, »guck ihn dir an, er will sterben«, und sackte nass und traurig und klar im Kopf und doch so elend versoffen immer aufs Gummibett hinter dem Ofen.

»Aber Ahlers«, sagte Polly.

Aber die beiden waren schon aus dem Haus.

*

Merkatts Boot hinterm Garten im Kümohafen lag ächzend zwischen Busch und Schotter der Maakenböschung im eindrängenden Wasser, sie mussten die Schräge nicht mehr hinunter, vom Deich weg an Bord, das war jetzt nur noch ein Sprung. Aber Bantumak hielt Ahlers zurück, »heb mal die Arme hoch. Wer sich selber nicht retten kann, rettet auch keinen anderen.« Ahlers ließ sich von Bantumak die Leine um Brust und Schultern binden, »wenn mal richtig was los ist, ist alles immer wie Kino. Ist bloß sonst nie.« Und plötzlich brüllte er los, kein Wort, nur blökender, reißender Schrei gegen Wand und Wind und Zeug, gegen die jammernde Finsternis, die ihm das Maul stopfen wollte, wieder mal wollte, diesmal aber nicht weit damit kam. Er sprang ins Boot, riss Bantumak nach, »mach den Tampen weg, zack!« – »Warte noch, erst noch den Motor ansetzen!« Sie zerrten und kippten und klemmten und kanteten rüber und keuchten und redeten nichts. Der berstende Wind schlug ihnen die Ohren zu, trieb ringsum Wassermassen stampfend und pfeifend in Becken und Buchten, fetzte oben die Wolken weg vor dem fast runden Mond, »prima hell!«, »ganz praktisch!«

Aber noch bevor sie den Motor richtig angesetzt hatten und sie ihn anreißen konnten, gerade als die Luft für Sekunden scheinbar jäh stillstand, hörten sie drüben den Einbruch, den Dammbruch, hörten sie diesen saugenden, schmatzenden, verdeckelten Knall, das Einsacken, Wegrutschen, Poltern und Röllern von Stein und Büschen und Sand, und dachten beide: Die Hütten, die Bastelbuden, die Altenhäuschen, die stehen jetzt gegen vier Meter Flutwand. Aber dann rissen die anfauchenden nächsten Böen schon wieder alle Verbindungen weg, die beiden standen taub da, wussten aber jetzt schon, was dort drüben unter den Teerpappdächern passieren wird. Ahlers, plötzlich vom Schreck auf den Kopf geschlagen, versuchte noch schnell mal so loszuschreien wie eben, ganz frech, aber jetzt kam kein richtig flotter Ton mehr aus seinem Hals, jetzt hielten die beiden sich aneinander fest, und Bantumak brüllte Ahlers ins Ohr: »Angst?!«

»Ganz klar!«

»Wir gehn durch den Einbruch! Wir nehmen das Beiboot!« Sie dachten, sie würden die Einbruchsstelle erst suchen müssen, aber der Mühlenwärder Damm, hinter dem eben noch Leute gewohnt und geredet und geschlafen hatten, war in einer Breite von über hundert Metern glatt weggedrückt worden. Sie merkten im Lärm des eintosenden Wassers in ihrem flachen Boot nicht einmal den Punkt, den Scheitel des Deiches, waren schon, ehe sie es dachten, zwischen brechenden Buden und Apfelbaumästen und Hunden und Ratten, Kaninchen und schreienden alten Leuten.

Bantumak hatte die Lampe.

Als Ahlers die alte Frau in den Schlickstrudeln hochjapsen sah, sprang er los.

Die Leine, die ihn hielt, hatte Bantumak um den Leib, er hatte keine Zeit mehr gehabt, Ahlers zu warnen, er manövrierte das Boot an die keuchende Frau, und als sie sie endlich, fast schon tot von Nässe und Angst, im Boot hatten, konnte Ahlers selber kaum nach.

*

Aber es waren zu viele. Und es war viel zu kalt. Sie mussten einen Trick finden, sonst ersaufen hier alle, auch Ahlers und Bantumak, also los, ein paar Hütten waren aus Stein, blieben im Wasser einstweilen fest, das Wasser stand zwar bis hinauf in die kleinen Fenster, aber so konnte man leichter die gefischten Leute vom Boot aufs Dach raufstoßen. Sicher, die Kälte da oben im Wind, und alles Bettzeug war nass und voll Ratten, aber »Hauptsache erst mal, du lebst«, sagte eine im Boot, Erna Hinze, schon alt, und so dünn und hart wie früher mal Vizefisch, und zog oben aus der quietschnassen Schlafjacke ein kleines Tuchbündel, und da drin war ein Kanarienvogel, noch warm, aber schon tot, nass verknittert zwischen den Brüsten. Als Erna in all dem Sturm und Elend den abgesoffenen Vogel sah, wollte sie eigentlich gleich wieder raus aus dem Boot, einfach wegsacken, »der war mein Letzter«, den hatte sie eben noch schnell gegriffen, als sie beim Nachbarn aufs Holzbudendach rauf sollte, bis auch das weggeknickt war unter den nachgebenden leichten vier Wänden. Aber Ahlers hielt sie einfach, ruckzuck, so fest wie damals Tamara im Alfa und schrie und brüllte und dröhnte gegen das Quietschen der Alten, so wie er damals in Oldesloe hätte schreien wollen und gar nicht konnte, und so, als wenn dieser Schrei aus Wut und Angst und Hass einen anderen stark machen kann wie Panzer.

*

Bevor noch im schwarzen Jammer dieses anbrechenden Wintermorgens amtliche Hilfstruppen mit Schlauchbooten und Hubschraubern die vom Wasser zerstörte Laubengegend hier abkreisen konnten und all die anderen überfluteten Wohngebiete, bevor das alles abgesucht und abgefischt werden konnte nach Leichen und Lebenden und Sterbenden und Schreienden, bevor noch diese große Übung der Truppen und Täuscher und Todesretter und Teufelskerle auf Touren kam, hatten Ahlers und Bantumak zweiunddreißig Leute auf den letzten drei trockenen Dächern und sammelten die nun nach und nach ab wie steifgeschlafene Fledermäuse und ruderten hin und her zwischen Dächern und Dreck und Polly und Merkatt und Schnaps, bis alle unter der Ochsenhaut und bei den Kindern saßen und lagen und herumschlichen und Wut hatten gegen die Stadt und weinten. Und irgendwann fielen Ahlers und Bantumak zwischen all diese Leute in Pollys Budenküche und waren kaputt. Und als ein Zitteropa den heißen Tee aus seinem Becher rausschwappen ließ auf Ahlers’ Hand, wurde die Handhaut nur rot, und die Finger krümmten sich plötzlich zur Faust, vor Schmerz. Aber Ahlers merkte das nicht. Ahlers war weg und hatte immer noch das eine Ende der Leine um Brust und Schultern, und Bantumak das andere, Glück muss man haben.

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