Schlachtvieh.
Fernsehspiel für Menschen in einem unterentwickelten Land
Buch: Christian Geissler Regie: Egon Monk, 92’04″,
mit Ernst Jacobi, Gerlach Fiedler, Uwe Friedsrichsen, Peter Lehmbrock, Hartmut Reck, Gert Haucke, Ina Peters, Renate Pichlers u.a.
NDR 1963, Erstsendung 14.2.1963
(auch als Buchausgabe erschienen im Claasen-Verlag 1963)
Menschen in einem Fernzug, die trotz aller Anzeichen existenzieller Bedrohng nicht wissen wollen, wohin die Reise geht. Die bedingungslos der Obrigkeit vertrauen, egal, was kommt. „Schlachtvieh“, der Titel dieses Lehrstücks im Brechtschen Sinne, ist aber nicht nur eine Anspielung auf die allderdümmsten Kälber, die ihre Schlachter selber wählen. Es ist auch der Name eines Gesellschaftsspiels, mit dem sich die Reisenden im Zug „Gesellschaft“ auf dem Höhepunkt ihrer Entmündigung die Zeit verkürzen. Jeder der Mitreisenden muss pantomimisch ein Tier schlachten. Wer zuerst rät, welches es ist, kommt als nächster dran. Vom Hasen über Karpfen gekommen nimmt der Journalist Steinhoff sich in provokativer Weise der eigenen Spezies an: Steinhoff macht Motorengeräusche eines Bombers nach und markiert einen Piloten am Steuerknüppel, der die Bomben abwirft. Am Ende seiner Darbietung deutet er einen aufsteigenden Atompilz an. Die Leute im Zug sind erst gebannt und dann begeistert von dem Spiel.
„Es ist spannend, einem erstaunlichen Vorgang beizuwohnen, was er bedeutet, kann gefährlich sein.“ Das Zitat Heinrich Manns, das am Anfang des Films eingeblendet wird, klingt noch rätselhaft, fast wie eine Drohung. Wir sehen Bilder von Kühen auf einer Weide – unterlegt mit einer Montage selbstzufriedener Aussagen über die junge Bundesrepublik, Versatzstücken aus der Werbung, politischer Versprechen und militärischen Parolen: „Es ist geschafft.“ – „Wir leben nicht mehr unter Trümmern.“ – „Wir haben Sorgen, dass wir zu dick werden könnten.“ – „Die erste Etappe liegt hinter uns.“ – „Jeder hat eine Chance!“ – „Denke dran, schaff Vorrat an.“ – „Die Lebensform freier Menschen.“ Im Bild die Kühe: Nahaufnahmen von sabbernden Mäulern. In Anspielung auf die geplante atomare Bewaffnung der Bundeswehr: „Es schützen schon ganz kleine Mauervorsprünge.“ – „Vor allem Ruhe bewahren!“ – „Es kann schlimmstenfalls nur 14 Tage dauern!“ – Liegen bleiben, bis der Druck nachlässt, dann erst den Schutzraum aufsuchen“– „Und gegen die Strahlungen einfach ein nasses Kleid über den Kopf.“
Eben noch auf der Weide, und schon nauf dem Weg in den Schlachthof: „Das Glück lacht dir zu!“
„Mal was Neues probieren?“ – „Machen sie ihn einfach mit, den Schritt zur nächsten Etappe“. Die Kühe werden auf die Ladefläche getrieben. „Wohin geht denn die Reise?“
Die Montage mag dick aufgetragen sein, verfehlt aber nicht ihre Wirkung. Die Reise des „Schlachtviehs“ geht zur Verladestation und dort in die hinteren Waggons eines Zuges. Der Rest spielt sich vorne ab: Waggons der Luxusklasse, Restaurant, Bar, Schreibabteil mit Telefon und Fernschreiber. Eine zufällig zusammengewürfelte Gruppe von Bürger:innen macht auf ihrer sich zur Geisterfahrt entwickelnden nächtlichen Reise zum unbekannten Ziel die merkwürdigsten Erfahrungen. Mit von der Partie sind u.a. ein Pfarrer, ein Betriebspsychologe und ein Oberfähnrich, der junger Uwe Friedrichsen als der aus der DDR stammende Köhler, Hartmut Reck und Gert Hauke als Journalisten Engel und Steinhoff sowie die Besatzung, die aus Barmädchen, Schreibabteilmädchen und dem Schaffner besteht. Ein älteres Ehepaar sitzt auf den falschen Plätzen, aber es besteht darauf – wegen der Fahrtrichtung. Sie fahren immer rückwärts, nie vorwärts: „Das strengt uns zu sehr an.“ Der Pfarrer sucht seinen Platz und bemerkt dabei, dass der hintere Zugteil verschlossen ist.
Die Durchsage des Schreibabteilmädchens spricht vom Interkontinental-Express, was eher an eine Rakete erinnert. Dialoge zwischen den Fahrgästen oder mit dem Personal werfen in einer für Geissler typischen und schon aus „Anfrage“ bekannten Art Schlaglichter auf die gesellschaftliche Situation und mögliche Haltungen. Dann eine verzerrte Durchsage, deren Quelle völlig unklar bleibt. Die Stimme kommt aus dem Telefon, wird aber direkt in den Zug übertragen. Sie weckt Assoziationen an einen Kriegsbeginn. „Was war denn das?“, fragt Köhler den Mitreisenden Fuchs an der Bar: „Cocteau.“ Noch lachen sie herzlich. Doch das „Schreibabteilmädchen“, das eine erwachsene Fau ist und sich als ziemlich selbstbewusst erweist, wird nervös. Eine dramatische Situation, baut sich auf, die Fenster lassen sich nicht öffnen, vorgesehene Zwischenstopps fallen aus.
„Höhere Gewalt! – Wie hoch?“, “Man tut, was man kann.“ – Was können Sie?“ Es fallen Sätze wie „Wo Leute Uniform tragen, kann nichts schiefgehen, sagt mein Vater.“, und die Bemerkung „Sie reden schon wie ihr eigener Vater“ wird mit einem „Da haben Sie mal recht“ dankbar quittiert. Die einen drängen die Probleme beiseite: „Es ist alles in Ordnung!“ Andere, allen voran das „Schreibabteilmädchen“, wollen wissen, was los ist. Das Mädchen zieht schließlich die Notbremse – aber ohne jede Wirkung. Vor der Tür zum hinteren Zugteil kommt es zu einer dramatischen Szene. Mit Gewalt lässt sie sich nicht öffnen, aber es muss doch einen Schlüssel geben. Der Pfarrer stellt sich Köhler entgegen, es wird demokratisch abgestimmt: Ruhe ich die erste Bürgerpflicht. Die kleine Rebellion macht einen Rückzieher.
Die Nazis, so redete sich eine Mehrheit in den 1950er Jahren raus – das waren die anderen. Sie selbst – schlimmstenfalls „Mitläufer“. Vor dem Hintergrund der bis ins Jahr 1956 zurückgehenden Diskussion über die Einführung von Notstandsgesetzen, der Wiederbewaffnung des Bundesrepublik und der bleiernen „Ruhe-und-Ordnung-Stimmung der Adenauer-Jahre stellt Geissler in „Schlachtvieh“ die provokative Frage nach den Mitläufern der Restauration.
Gert Haucke: In „Schlachtvieh“ der Mahner, der den Bomberpilot spielt,
am Ende wie alle, die für die Ordnung sind oder sich denen
nicht widersetzen, selbst ein Schlachter.
An einem verlassenen, unendlich langen Bahnsteig steigen die Reisenden am Ende der Fahrt aus. Erleichterung? Sie gehen jede:r für sich in die Dunkelheit. Schnitt: Aus dem hinteren, verschlossenen Teil des Zugs werden die Rinder getrieben. Auch die die Schlachter steigen aus. „Ihre Gesichter sind die Gesichter der Reisenden“, so steht es im Drehbuch, „aber ihre Kleidung ist Metzgerkleidung.“ Auch Köhler und der kritische Fähnrich sind dabei. Nicht nur die Mitläufer machen sich demnach schuldig, wenn eine Gesellschaft zu Schlachtvieh wird, sondern am Ende auch jene, die ihnen nicht entschieden entgegentreten.
Literatur:
- Das Drehbuch wurde 1963 im Claassen Verlag auch als Buch veröffentlicht. Es ist ebenfalls enthalten in der Neuausgabe der Werke im Verbrecher Verlag: Schlachtvieh / Kalte Zeiten 2014, mit einem Nachwort von Michael Töteberg.
- Christian Geissler: Rede III / Dritte Rede. Rede Geisslers aus Anlass einer Vorführung von „Schlachtvieh“ im Audi-Max der Universität Hamburg 1965, enthalten in Geisslers Sammelbänden „Ende der Anfrage“ (1967) sowie „Plage gegen den Stein“ (1978).