„Wo war ihr Herr Vater am 9. November 1938, nachts?“ – so präzise formulierte der Hamburger Schriftsteller Christian Geissler in seinem literarischen Debüt „Anfrage“ (1960), was seine Hauptfigur wissen will. Klaus Köhler, Mitarbeiter am Physikalischen Institut der Universität München, will herausbekommen, was aus der jüdischen Familie geworden ist, der das Institutsgebäude früher gehört hat; ein entfernter Verwandter der Familie kommt aus Amerika zu einer Visite und Köhler will wissen, mit was für unangenehmen Wahrheiten dieser ihn konfrontieren könnte.
Wie ist es zu Nationalsozialismus, Judenverfolgung und Krieg gekommen? Wer trägt die Verantwortung, wer hat mitgemacht, wer hat seinen Vorteil daraus gezogen. Christian Geissler, 1928 geboren und in den letzten Kriegsmonaten noch eingezogen, gehörte er zu den „zornigen jungen Männern“, die aus Nationalsozialismus und Krieg ihre Lehren ziehen wollten: „damit die Gemütlichkeit ein Ende hat“, in der sich die Nachkriegsgesellschaft schon wieder eingerichtet hatte. Sein Roman rüttelte am gesellschaftlichen Konsens, die eigene Verantwortung zu verdrängen und das von getöteten oder geflohenen Juden „arisierte“ Eigentum als „rechtmäßig erworben“ zu betrachten. Mit der Rigorosität, mit der er seine „Anfrage“ formulierte und die auch sein weiteres Werk auszeichnet, war er in der deutschen Literatur ein Solitär. Wie bedeutsam und wichtig sie war, belegt die Resonanz, die der Roman und ein nach ihm gedrehtes Fernsehspiel (NDR 1962) erfuhren. Ralph Giordano besprach den Roman in der „Allgemeinen Wochenzeitung der Juden in Deutschland“, Marcel Reich-Ranicki schreib in der „Zeit“: „Dieser Roman gehört zu jenen Büchern, die die lesende Welt seit mehr als einem Jahrzehnt von den deutschen Autoren verlangt,“ urteilte in literarischer Hinsicht aber auch kritisch: „Ein heiserer Schrei, gewiss, doch ein erschütternder Schrei, dessen Ehrlichkeit nicht bezweifelt werden kann.“ Wie aktuell der Roman noch heute ist, zeigt beispielsweise der sogenannte „Fall Gurlitt“. Anders als Geissler stellte Gurlitt nach dem Krieg keine Fragen; er versteckte den „Kunstschatz“ seines Vaters und hütete dessen „Ansehen“ – ohne die Frage zu stellen, auf welche Weise sein Vater in den Besitz der Werke gelangt war. Aber auch öffentliche Museen lagern bis heute – trotz UN-Konvention von 1970 und Washingtoner Erklärung von 1998 –, einen Teil ihrer Bestände lieber in den Magazinen ein als zu klären, wem die Werke womöglich rechtmäßig gehören.
Christian Geissler ist den mit seinem Debüt eingeschlagenen Weg weitergegangen – als Schriftsteller, als Pionier eines neu entwickelten Fernsehspiels der „Hamburger Schule“ (gemeinsam mit seinem Freund Egon Monk), als Dokumentarfilmer und Hörspielautor. 1964 drehte er für den SWR eine Reportage über ein Dorf bei Linz an der Donau, in dem während der Nazi-Zeit – im Rahmen der Euthanasie – Behinderte und psychisch Kranke ermordet wurden. Die Bewohner wollten auch 1964 nichts gewusst haben und wollten nichts wissen. Die Reportage wurde nie gesendet und 1966 als Fernsehspiel des DDR-Fernsehens „nachinszeniert“. Sein Titel: „Ende der Anfrage“. Von jetzt an stand für den Autor die Veränderung der Verhältnisse im Mittelpunkt.
Sein literarisches Schaffen, seine Arbeiten für Fernsehen und Hörfunk und sein politisches Engagement bilden für Geissler eine Einheit, sie durchdringen sich gegenseitig. Egal, ob es sich um einen Roman, die Reporterstimme vor der Kamera oder eine politische Stellungnahme handelt – Geissler nimmt eine Haltung ein, verkörpert sie, spricht sein Gegenüber an und fordert es heraus. Daher rührt seine Ausstrahlungskraft und die Faszination, die er auf LeserInnen, MitstreiterInnen, FreundInnen ausübt, aber auch die Ablehnung, die ihm immer wieder entgegengeschlagen ist. An seiner Person und an seinem Werk scheiden sich die Geister. Mit Romanen wie „Das Brot mit der Feile“(1973), „Wird Zeit, dass wir leben“ (1976) und „kamalatta“ (1988) wurde Geissler zum Chronisten des politischen Widerstands in der Bundesrepublik. Durch sein Engagement für politische Häftlinge und sein öffentliches Auftreten unterstützte er diesen auch mit außerliterarischen Mitteln. So gründete er 1973 gemeinsam mit anderen das Hamburger Komitees gegen Folter an politischen Gefangenen in der BRD, besetzte mit Angehörigen von RAF-Häftlingen die Kantine des „Spiegels“ oder beteiligte sich später an Hungerstreiks für die Zusammenlegung der RAF-Häftlinge. In seinen letzten Arbeiten – „Wildwechsel mit Gleisanschluss“ (1996), „Ein Kind essen“ (2001), „In den Zwillingsgassen des Bruno Schulz“ (2002) führte er die großen Linien seines Werkes noch einmal zusammen: die Aufarbeitung des Holocaust und der Kampf gegen politische Repression und Fremdenhass, die „Liebe zum Leben“, wie er sagte, und die Möglichkeit, sich zu wehren.
Auf der einen Seite wurde Christian Geissler immer wieder für sein Schaffen ausgezeichnet. Mehrfach erhielt er den Adolf-Grimme-Preis, außerdem den Fernsehpreis der Arbeiterwohlfahrt (1974); den Förderpreis für Literatur der Freien und Hansestadt Hamburg (1985), den Literaturpreis der Irmgard-Heilmann-Stiftung (1988), den Hamburger Autorenpreis (1988), die Auszeichnung Hörspiel des Jahres der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste (1993), den Hörspielpreis der Kriegsblinden (1993) und den Kunstpreis des Landes Niedersachsen (1998). Auf der anderen Seite blieb er ein Außenseiter des Literaturbetriebs. Vor zwei Jahren hat sich in Hamburg die Christian-Geissler-Gesellschaft gegründet und sich zum Ziel gesetzt, sein Schaffen wieder zugänglich zu machen. Seit Sommer 2013 erscheint im Berliner Verbrecher Verlag eine Werkschau Geisslers. Sie startete mit einer Neuausgabe des Romans „Wird Zeit, dass wir leben“ (mit einem Nachwort von Detlef Grumbach). 2014 erscheinen „Schlachtvieh“ und „Kalte Zeiten“ in einem Band; Michael Töteberg stellt im Nachwort Christian Geissler als Fernsehspielautor und Dokumentarfilmer vor.
Am 25. Dezember 2013 wäre Christian Geissler, der im Sommer 2008 gestorben ist, 85 Jahre alt geworden.
Lieferbare Bücher:
- Wird Zeit, dass wir leben. Geschichte einer exemplarischen Aktion. Verbrecher Verlag 2013
- In den Zwillingsgassen des Bruno Schulz. Poetische Informationen aus den Arbeitsreisen mit dem Filmregisseur Benjamin Geissler. Die Aktion, Heft 205, Edition Nautilus
- Prozess im Bruch. Schreibarbeiten 1989 – 1992. Edition Nautilus 1992