Schon nach den Verhaftungen der ersten Generation der RAF regte sich in den Haftanstalten und auch bei damals noch in breiteren Kreisen vorhandenen Unterstützern draußen Widerstand gegen die Isolationshaft, die auch als „Vernichtungshaft“ bzw. „Isolationsfolter“ bezeichnet wurde. 1973 führten Ulrike Meinhof und andere Häftlinge einen Hungerstreik durch, um ihrer Forderung nach Zusammenlegung und „normalen“ Haftbedingungen Nachdruck zu verleihen und die Solidarität in der Öffentlichkeit zu organisieren. Christian Geissler gründete damals in Hamburg zusammen mit anderen das Komitee gegen Folter an politischen Gefangenen in der BRD und startete eine Solidaritätsaktion unter Schriftstellerkolleg*innen. Stärker in öffentlichen Bewusstsein verankert sind jedoch die Hungerstreiks zur der RAF-Gefangenen nach dem Deutschen Herbst 1977, also nach dem Scheitern der Befreiung der Inhaftierten der ersten Generation und der Todesnacht von Stammheim. Auch diese Hungerstreiks – so wie die Situation der Gefangenen überhaupt – hat Christian Geissler intensiv begleitet. Ein immer wieder abgedrucktes Foto zeigt ihn 1981, wie er mit einer Gruppe von Angehörigen der Häftlinge die Kantine es Hamburger Spiegel-Hauses besetzte.
Den Hungerstreiks in den Jahren 1981, 1984/1985 und 1989 widmet der Politikwissenschaftler Jan-Hendrik Schulz eine fast 600 Seiten starke Dissertation, die jetzt im Campus-Verlag erschienen ist und in der auch Christian Geissler seine Rolle spielt. Schulz stellt er zunächst einmal fest, dass sich nahezu alle Studien zur RAF auf die sogenannten Hauptphase von ihrer Gründung (die Befreiung Andreas Baaders aus der Haft) bis 1977 beschäftigen. Die Phase danach, bis zu ihrer Auflösung 1998, dauerte etwa dreimal so lange und wird, so auch bei Stefan Aust, meist zusammenfassend in einem kurzen Schlusskapitel behandelt. Schulz dagegen stellt sie – längst überfällig – ins Zentrum seiner Betrachtung und unternimmt den Versuch, „Erklärungsansätze für die vergleichsweise lange Kontinuität des Phänomens RAF in westdeutscher Gesellschaft zu finden“.
Dabei erhebt er den Anspruch, ein zweites Manko der bisherigen RAF-Forschung zu überwinden: Bisher hätten sich die meisten Untersuchungen auf die Täterperspektive konzentriert und deren Aktivitäten ins Visier genommen (was gelegentlich auch dazu geführt hat, der RAF den politischen Zahn zu ziehen und sie als Phänomen wildgewordener Kleinbürger zu interpretieren, die den Generationskonflikt mit ihren Väter in andere Kampfzonen ausgeweitet hätten). Schulz weitet die Perspektive und lenkt die Aufmerksamkeit auf Entwicklungsprozesse innerhalb der gesamten Gesellschaft, vor allem jedoch in einem linken und linksradikalen Milieu, um die fortgeführten Untergrundaktivitäten der RAF in einen größeren gesellschaftlichen Zusammenhang zu stellen. Denn immerhin, so stellt er fest, hätten den Hungerstreikkampagnen der 1980er eine „erstaunliche Mobilisierungsfähigkeit“ innegewohnt, hätten sich „tausende Menschen“ für die Forderungen der Inhaftierten eingesetzt – und das, obwohl nach dem Deutschen Herbst die Basis eines Verständnisses für oder gar einer Unterstützung der RAF auf ein Minimum zusammengeschnurrt sei. Deshalb, so Schulz, sollen die Hungerstreiks „weniger unter dem Vorzeichen einer ‚politischen Subjektivierungspraxis‘, sondern primär als politisches Kommunikationsmittel und auf eine gesellschaftliche Mobilisierung abzielende Widerstandsform gegen den Staat verstanden werden.“ Er will die simple Gegenüberstellung von staatlichen Institutionen und militanten „Terroristen“ überwinden und „hin zu einer Sozialgeschichte mit gesamtgesellschaftlichem Anspruch“: Er untersucht, auf welche Bewusstseinslagen die Aktionen der Inhaftierten im „radikalen Milieu“ draußen gestoßen sind (Bild von einem Staat auf dem Weg in einen neuen Faschismus beispielsweise) und wie es mit dem Mittel Hungerstreik gelungen ist, eine Unterstützerszene zu mobilisieren bzw. woran dies auch gescheitert ist.
In diesem Kontext geht die Dissertation auch auf Christian Geisslers Anstrengungen ein, einen (selbst-)kritischen Dialog zwischen „drinnen und draußen“ in Gang zu setzen und auch politische Lehren aus dem Scheitern der RAF zu ziehen. Doch Geisslers Engagement begann mit seinen Solidaritätsaktionen 1973 und der Gründung des Komitees. Die Solidarität mit den RAF-Gefangenen stand bis Ende der 1980er Jahre im Zentrum seiner politischen Aktivitäten. Dazu gehört auch der Roman „kamalatta“, die dort geführten Debatten und die Deklaration seiner Lesungen aus dem Roman zu Solidaritätsbekundungen mit den Inhaftierten, aber auch sein eigener Hungerstreik, den er zusammen mit Sabine Peters 1989 in Reemtsmas Institut für Sozialgeschichte des 20. Jhdts. durchgeführt hat. Seine Flugschrift „Dissonanzen der Klärung. Brief an die Genossen der Roten Armee Fraktion“ bildet noch keinen Abschluss, obwohl sie kaum auf Resonanz der Häftlinge stieß.
Schulz erwähnt Geissler und sein Engagement aber lediglich im Kontext des Hungerstreiks 1989. Das mag an seiner Schwerpunktsetzung und auch an der Unzugänglichkeit von Material liegen, doch erscheint es auf diese Weise punktuell und isoliert. Die tatsächlich gegebene und in dieser Form einzigartige Kontinuität der „Kommunikation“ (im Sinne Schulz’) der Gefangenen mit Geissler und umgekehrt geht in dieser von einer beispiellosen Materialfülle getragenen Darstellung unter. Es mag beckmesserisch klingen, diesen Punkt jetzt zu monieren, aber darum geht es auch nicht. Schulz hat seinen Forschungsgegenstand umfangreich und ergiebig bearbeitet und damit die Frage erst aufgeworfen: Wäre es nicht interessant, Geisslers Engagement für die RAF-Gefangenen über den gesamten Zeitraum unter die Lupe zu nehmen und dazu vor allem seine umfangreichen Briefwechsel mit ihnen zu analysieren. Diese liegen im mittlerweile erschlossenen Nachlass im Fritz-Hüser-Institut – einschließlich eines Konvolut „Gitter der Täuschung“ aus den 1970er und 1980er Jahren, das zu einer allerdings nie ausgearbeiteten Publikation zur Lage der Häftlinge hatte führen sollen.
Jan-Hendrik Schulz:
Unbeugsam hinter Gittern
Die Hungerstreiks der RAF nach dem Deutschen Herbst
Campus 2019, 590 S., 58 €