Christian-Geissler-Gesellschaft e.V.

Arbeit im Akkord. Platz 219 (1967)

Arbeit im Akkord. Platz 219 (45 Min.)
(Reihe: Ein Land fünfundzwanzig Jahre später)

Regie: Christian Rischert
Drehbuch: Christian Geissler & Christian Rischert
Produktion: Bayerischer Rundfunk 1967

Für den folgenden Text danken wir Robin Kronenberg:

Im Mittelpunkt der Dokumentation steht Roswitha H., 24 Jahre, gelernte Friseuse aus Flensburg, die nunmehr in München als Akkord-Arbeiterin im Messgerätebau tätig ist. Heirat mit 17, Tochter mit 18. Alf H., ihr Mann, 29 Jahre, arbeitet als Werkzeugmacher in der gleichen Firma, auch er aus Flensburg. Ein zweites Kind kommt aufgrund des damit verbundenen Verdienstausfalles nicht in Frage. Urlaub regelmäßig in Flensburg bei den Eltern. Roswitha H.: »Ich würd’ mein Mann schon wieder heiraten, aber nicht so früh. Ist doch ein bisschen früh. Ich bereue es nicht, dass ich geheiratet hab’, nämlich wer weiß, ob ich in ein paar Jahren […] so einen guten Mann wieder gekriegt hätte wie ich jetzt hab’, also unglücklich bin ich nicht.«
Es ist sechs Uhr morgens. Der Film zeigt die Familie, die in einer Werkswohnung ihres gemeinsa- men Arbeitgebers wohnt, bei der morgendlichen Vorbereitung. Kein gesprochener Kommentar. Im Hintergrund laufen im Radio die Nachrichten (»nach amerikanischen Angaben hat der Vietcong in der vergangenen Woche überaus hohe Verluste hinnehmen müssen«, …). In der Küche wird das Frühstück eingenommen. Um 6 Uhr 45 wird die Tochter auf dem Weg zur Arbeit in den katholi- schen Kindergarten gebracht werden.
Roswitha H. nimmt nun nach dem Einstechen an der Zeiterfassung ihre Arbeit auf und im gleichen Zug beginnt der Kommentar:
– Akkordlohn Roswitha H.: monatlich zwischen netto 420 und 480 Mark; 20 Pfennig Zuschlag pro Stunde als »Augengeld« wegen andauernder Gefährdung der Sehkraft bei Feinarbeiten.
– Lohn Alf H.: monatlich netto 687 Mark.
– Ausgaben: monatlich circa 300 Mark Haushaltsgeld, 200 Mark Raten, 171 Mark Autokosten, 52 Mark Kindergarten.
– Miete (einschließlich Heizung und Energie; zwei Zimmer, Küche, Bad): monatlich 212 Mark.
– Urlaub: Roswitha H. 16 Tage im Jahr, Alf H. 18 Tage im Jahr.
Danach wird erst gegen Ende der Reportage der Kommentar wieder aufgenommen werden. Roswitha und Alf H. kommen fast ausschließlich nur im Hintergrund zu Wort. Roswitha H.:
»In der Fabrik da balanciere ich Anzeigen fürs Tonbandgerät. Das ist alles. Um meinen Akkord zusammenzukriegen muss ich 400 Stück am Tag machen und für eins brauche ich circa anderthalb bis zwei Minuten. […] Mein Mann ist ganz gern in seinem Beruf als Werkzeugmacher, aber ich glaub’ sein Traumberuf ist ja doch was anderes, Offizier bei der Bundeswehr. […] Ich möchte ganz gerne – oder ich stelle es mir jedenfalls vor – dass sie [die Tochter] vielleicht die Ärztelaufbahn oder so einschlägt. Und wenn sie das einzige Kind bleibt, dann kann man es vielleicht schaffen, dass sie etwas mehr wird wie wir. An was denkt man bei der Arbeit? An und für sich an alles, was einem ein bisschen […] ablenkt von der Arbeit, dass man sich nicht darüber ärgert.«
Der Film verfolgt den Alltag der Familie H.; die Aufnahmen zeigen die Arbeitsplätze der beiden Eheleute, den Kindergarten sowie den Aufenthalt zu Hause (bei der Hausarbeit, beim Abendessen, beim Kaffeetrinken, abends auf der Couch). Weitere Schauplätze sind unter anderem die Kantine, die Kneipe, der Ehegatte bei der Betriebsfeuerwehr (Alf H.: »Schon als kleiner Junge hab’ ich was für Feuerwehren übrig gehabt«), ein Einkauf im Supermarkt, vor den Schaufenstern eines Möbel- geschäfts.
Am Arbeitsplatz von Roswitha H. wird Lockerungsgymnastik angeboten. Roswitha H.: »Die fünf bis zehn Minuten gehen von unserem Akkord ab. Das fehlt dann nachher an unserer Stückzahl, nämlich die ist so knapp bemessen, dass wir tatsächlich jede fünf bis zehn Minuten brauchen.« Alf H.: »Das, was meine Frau arbeitet, das ist ziemlich filigran […] es ist aber gleichzeitig eine ziemlich stupide Arbeit, also eintönig […] also mir würd’s nicht gefallen.«
Die immer gleiche Wiederkehr der gleichen Handgriffe der Akkordarbeit spiegelt die Dokumen- tation dadurch wider, dass die Reportage mit immer den gleichen Bildern an den Arbeitsplatz von Roswitha H. zurückkehrt. Roswitha H.: »Das ewige stupide Dasitzen, von morgens bis abends auf dem Stuhl sitzen, man kann sich nicht bewegen […] ich weiß nicht, das ist irgendwie…, das hält auch keiner lange durch.«
Der Film vermittelt Intensität und Nähe durch seine Ruhe. In den ersten drei Minuten des Films hört man nur das laufende Radio im Hintergrund. In einer Szene wird die Tochter beim Fernsehen beobachtet – dreißig Sekunden lang ihr Gesicht in Großaufnahme – danach ein scharfer Schnitt auf den Lötkolben am Arbeitsplatz von Roswitha H. Das ist der Unterschied zwischen privat und beruflich: Das Interesse und die Spannung, die dem Kind im Gesicht gechrieben steht, gegenüber der Eintönigkeit der täglichen Arbeit. Nicht nur Akkordarbeit beschneidet die Menschen in ihrer Kreativität.
Am Rande wird der politische Alltag des Jahres 1967 miteingebunden. In einer Szene sitzt das junge Ehepaar auf dem Sofa und im Hintergrund läuft der Fernseher. Der Fernseher wird nicht ge- zeigt. Unverkennbar hört man den SPD-Politiker Herbert Wehner sprechen (der in der damaligen Großen Koalition unter CDU-Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger Bundesminister für Gesamt- deutsche Fragen war), sein Thema ist die Deutsche Teilung (»[…] die Menschen drüben […] sollen aber das Recht haben mit uns gleichberechtigt zu verkehren, das ist es, was ja wohl möglich sein muss […].«); im weiteren Fortgang der Tagesschau ist von den Notstandsgesetzen die Rede.
Roswitha H. äußert den Wunsch, einmal 14 Tage lang »so ganz alleine« zu verreisen, »weder Kind noch Mann«. Im Urlaub würde sie gerne nach Griechenland, aber auch Moskau würde sie
»sehr interessieren«, um zu sehen wie die Menschen dort »tatsächlich leben, wie ihre Mentalität ist, ob die da so frei leben wie wir oder ob die unter Druck irgendwie sitzen«. Zeit zum Lesen bliebe nicht viel, beklagen beide während der Reportage, die Zeit reiche nur für Zeitungen und Zeitschrif- ten. Roswitha H. lernt die Zeit in gewisser Weise von ihrer unangenehmsten Seite kennen: »Beim Akkord ist so unangenehm, dass man dauernd die Uhr im Rücken hat.« Er wäre gerne Offizier, weil ein Offizier »angesehener als ein Arbeiter« sei (zuvor aber wurde von ihm erklärt: »Ich bin Werkzeugmacher, das ist kein Arbeiter«).
Gut fünf Minuten vor Schluss der Dokumentation setzt der Kommentar wieder ein: »Wer imstan- de ist genau zu sagen, was er sich wünscht, der hat auch die Chance seinen Wunsch zu verwirklichen. Und wer fähig ist genau zu beschreiben, was ihn niederdrückt, der wird auch darauf kommen, wie man den Druck abschafft. Wer stumm ist, wem es die Sprache verschlägt, dem geht es schlecht, dem ist etwas passiert. […] Frau H. hat auch ihren Traum: Sie möchte einmal ganz allein sein, einmal ohne Kind, ohne Mann, allein in der Sonne am Meer. Sie entschuldigt sich zwar sofort, ›es mag ja schrecklich klingen‹, sagt sie, aber ich finde, sie will genau das Richtige: Mal zu sich selber kommen. An den Wünschen, die einer wichtig nimmt, kann man erkennen, was mit ihm los ist, und wer noch Lust hat zu sich selbst zu kommen […] mit dem ist sehr viel los. Gefährlich wird es erst dann, wenn so einer resigniert, wenn er den Lieblingswunsch wegwirft […]. Wichtiger wäre den Wunsch festhalten und dann herausfinden, was der Erfüllung im Wege steht, und wer womöglich den Weg verstellt.«
Der Kommentar thematisiert auch die vermeintliche »Ordnung« in der Gesellschaft. Das Ehe- paar stellt sich zumindest in seinen vier Wänden gegen (und dieses »gegen« ist im höchsten Sinne positiv gemeint) die übliche Ordnung, und zwar in dem Sinne, dass keine Aufteilung der Hausarbeit praktiziert wird, die einseitig zu Lasten der Frau geht.
Dieser Dokumentarfilm kann in eine Reihe mit Dokumentarfilmklassikern von Erika Runge, Eberhard Fechner, Georg Friedel, Klaus Wildenhahn etc. gesetzt werden. Zeitweise kann man den Eindruck gewinnen, dass Dokumentarfilm und Spielfilm ineinander verschwimmen (man fühlt sich an den Film »Eine Ehe« von Hans Rolf Strobel und Heinrich Tichawski erinnert). Die stupide Arbeit mit Lötkolben und Pinzette erinnert an das Montieren von Steckdosen in Heimarbeit am Küchentisch in Fassbinders »Mutter Küsters’ Fahrt zum Himmel« und manche längere Einstellun- gen an Fassbinders »Katzelmacher«.
Der Schluss des Kommentars verkündet klar und unzweideutig die Botschaft des sehr gelungenen Filmes: »sich die Macht zu holen, mit der man das wegräumen kann, was den besten Wünschen im Wege steht!« Der politische Einspieler über den Vietnam-Krieg, über die Reisefreiheit der DDR- Bürger oder auch der Wunsch von Roswitha H. zu sehen, ob die Menschen in Moskau wirklich so frei sind, unterstreicht diese Botschaft anhand des politischen Zeitgeschehens eindrücklich.
Dieser Film ist nicht nur eine Dokumentation über die Arbeitswelt, sondern er ist auch ein Mutmacher, der Eintönigkeit der Arbeitswelt seine eigenen Interessen entgegenzusetzen und die Erfüllung der eigenen Wünsche nie aus den Augen zu lassen.

Robin Kronenberg, 14. September 2020, für die »Christian Geissler Gesellschaft«

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