Wer Interesse an der gesamten Darstellung Ahlers und die Anderen hat, kann diese hier downloaden oder auch – in überarbeiteter Fassung, als kleines Büchlein im Verlag Trottoir Noir erwerben.
Die Einleitung des Textes finden Sie hier.
Einklang
Mit 14 produzierten Hörspielen ist Christian Geisslers Hörspielwerk relativ umfassend. Auch innerhalb seines Gesamtwerks macht es einen nicht unbedeutenden Anteil aus. Es steht, dieser Vorgriff sei erlaubt, exemplarisch für sein gesamtes literarisches Werk, bildet es die Brüche, Entwicklungen und Übergänge darin doch besonders markant ab. Beachtlich ist zu allererst der Zeitraum seines Hörspiel-Schaffens, der ein halbes Jahrhundert umspannt. Ebenso beachtlich sind die zeitlichen Lücken zwischen den Produktionen. Zwischen 1959 und 1964, 1995 und 2000, 2004 und 2008, vor allem aber zwischen 1970 und 1992 (!) sind keine Hörspiel-Produktionen von Texten Christian Geisslers überliefert.
Der Eingangsbefund muss lauten: Christian Geissler griff, übrigens wie die meisten Autoren, das Hörspiel als Gelegenheitswerk auf. Er pflegte dieses Genre allerdings kontinuierlich. Schon allein deshalb gingen seine Hörspielambitionen, dieser Eingangsbefund wird sich bei näherer Betrachtung bestätigen, über den reinen Broterwerb hinaus. (…)
Er war im Gegensatz zu vielen Hörspielautoren mit den medialen Techniken gut vertraut, hatte beim NDR-Fernsehen Studioluft geschnuppert, und dachte seine literarische Produktion vom Effekt her – nicht als leerer Effekt verstanden, sondern als Fähigkeit, der eigenen Sprache durch formalen Zugriff eine bestimmte, ungewöhnliche Form zu geben.
Und diese Fähigkeit, auch das ist nicht gewöhnlich, zeigte sich in Christian Geisslers Hörspielen in immer größerer Deutlichkeit. Sie führte schließlich ab den 90er Jahren zu einigen Hörspielen, die in der deutschen Hörspiellandschaft bis heute singulär da stehen, weil sich in ihnen das dichterische Wort unauflöslich mit dem politischen Anliegen verbindet, weil sie Aufklärung und Avantgarde in einem Atemzug sind. Die Anerkennungen für diese späten Hörspiele (wie der Hörspielpreis der Kriegsblinden) blieben nicht aus. Doch sollte dabei nicht übersehen werden, dass Christian Geissler das Ringen um diese Sprache bereits um 1965 begann, wie sein früherer Lektor Helmut Frielinghaus erinnert:
Auch meinte er nun, wenn ich ihn richtig verstanden habe, er müsse das, was er sagen wollte, in einer anderen, eigenwilligeren, gegenläufigeren Sprache sagen, um gegen die Bedrohung anzuschreiben, oder anders ausgedrückt, die Sprache, in der er ursprünglich zu Hause war, tauge nicht mehr für das, was er mitteilen mußte. Er wollte auch gegen die Sprache der Gesellschaft, die er kritisierte, angehen.[1]
Charakteristisch für alle Hörspiele Christian Geisslers ist neben der Sprache weiterhin ein meistens recht großes Figurenensemble, wie er es in ähnlicher Dimension und sogar noch größer für seine Romane entwarf (zum Beispiel 50 Personen in Wird Zeit, dass wir leben). Das mag zum einen an den Möglichkeiten des Hörfunks in den 1950er bis 1990er Jahren gelegen haben, der noch nicht in ähnlicher Weise wie heute von Sparzwängen diktiert war.
Zum anderen entsprechen die Hörspielfiguren in Anzahl, Eigenart und Sprache ganz der Ästhetik Christian Geisslers. Auch hier konnte seine Arbeit als Dokumentarfilmer wirkungsvoll einfließen, die Figuren wurzeln im tatsächlichen Leben, sie sind teilweilse wirklich so erlebte Figuren, teilweise verdichtete Figuren, nach der Wirklichkeit gezeichnet. Es sind überwiegend proletarische Figuren, die nur hin und wieder von Oberschichtfiguren kontrastiert werden. Diese treten im Gegensatz zu den proletarischen Figuren stark typisiert auf, am deutlichsten der SS-Führer im Hörspiel Zwillingsgassen, der sich den Maler Bruno Schulz als Leibeigenen hält.
Aber selbst diese typisierten Figuren haben Zeitkolorit. Sie umfassen Christian Geisslers eigene Lebenszeit – von Kriegs- und Nachkriegszeit bis in die globalisierte Gegenwart – die den Kosmos dieses Hörspielwerks ausmacht. Ein anderes Charakteristikum der Hörspiele ist in diesem Zusammenhang zu sehen, es findet sich ebenfalls im gesamten Werk von Christian Geissler wieder: Die Fortschreibung von Figurengeschichten. Die Figuren arbeiten sich Zeit ihres fiktionalen Lebens an denselben Fragen ab, die auch den Autor Christian Geissler umtrieben, und die er, wie sie, jeweils nur vorläufig beantworten konnte: Die Klassenfrage als Gewaltfrage, also die Möglichkeit des bewaffneten Kampfs (später durch die RAF beispielhaft vollzogen), und das Gespaltensein des Proletariers in zerstörerischen Aufbruch und kleinbürgerlichen Ordnungssinn.[2]
In den Romanen Kalte Zeiten (1965), Das Brot mit der Feile (1973), Wird Zeit, daß wir leben (1976), kamalatta (1988) und Wildwechsel mit Gleisanschluß (1996)sowie im Hörspiel Verständigungsschwierigkeiten (1969) kommt etwa, so ein erster Blick, die Figur Ahlers vor. Sie scheint besonders in Bezug auf die beiden genannten Prämissen (Gewaltfrage, Gespaltensein des Proletariers) eine Zentralfigur im Werk zu sein. Obwohl, das muss erwähnt sein, der Autor Christian Geissler einer solchen Hierarchisierung von Figuren sicherlich nicht ohne weiteres zugestimmt hätte.
So ist Ahlers, dessen Lebensweg in diesem Werk verfolgt wird – vom jungen Proleten Ahlers in Das Brot mit der Feile bis zum 15 Jahre älteren, nun bürgerlich gesetzten, aber gerade deshalb für den radikalen Aufbruch der RAF empfänglichen Ahlers in kamalatta – auch keine klassische Zentralfigur: Alter Ego nur bedingt, vor allem nicht schillernd und mittelpunktssüchtig. Vielmehr steht Ahlers, dessen sprachliche und intellektuelle Beschränkung nicht beschämt kaschiert, sondern geradezu aufs Schild gehoben wird, konstant im Mittelpunkt von privaten und politischen Debatten. Er ist eine Reflektorfigur, an der sich beispielhaft Debatten kristallisieren, und das eben über den Zeitraum des gesamten Werks hinweg. In diesem Kontext erscheint es aufschlussreich, dass Christian Geissler vor seinem Tod im Jahr 2008 den Plan hatte, alle seine Figuren in einem letzten Hörspiel zu versammeln. Das Hörspiel hätte, wenigstens sinngemäß, den Titel Ahlers und die anderen tragen können.[3]
Die erste und bisher einzige Übersicht über Christian Geisslers Hörspielwerk legte Hermann Naber 1998 in einem dem Autor gewidmeten Band der Zeitschrift die horen vor.[4] Diese Übersicht, von einer freundschaftlich-kollegialen Einstellung geprägt – bei nicht wenigen der vorgestellten Hörspiele führte Hermann Naber selbst Regie – liefert detailreiche Einblicke. Sie bedarf aber heute einer Aktualisierung. Es fehlen zwangsläufig die nach 1998 produzierten Hörspiele, ebenso aber vier frühe Hörspiele Christian Geisslers, die, in seiner katholisch-existentialistischen Phase geschrieben, trotzdem bereits Motive und Eigenheiten des Ausdrucks beim späteren Christian Geissler haben. Mit der frühen Werkphase ist ein möglicher Grund genannt, weshalb Christian Geissler die vier Hörspiele später nicht als Teil seines Gesamtwerks betrachtete. Sie fallen in die Phase vor seiner linken bzw. linksradikalen Politisierung. Im Rahmen dieses zweiten posthumen Überblicks über sein Hörspielwerk sollen sie zum ersten Mal vorgestellt werden.
[1] Helmut Frielinghaus: Nachkriegsjahre. In: die horen 192/ 1998, Bremerhaven 1998
[2] Vgl. Detlef Grumbach: Nachwort. In: Wird Zeit, daß wir leben, Berlin 2013
[3] Ebenso ist ein identisches Romanvorhaben von Christian Geissler mit dem Arbeitstitel Die Hand überm Schnee und noch eine Hand bekannt.
[4] Hermann Naber: „ich höre eine starre. eine fremde…“ Christian Geisslers Hörspiele – Eine Übersicht. In: die horen 192/ 1998, Bremerhaven 1998. In diesem Text (und auch in der Bibliografie Christian Geisslers im gleichen Band) gibt es einige fehlerhafte Angaben zu den Hörspielen. Die Ursendung von Taxi Trancoso erfolgte z. B. am 30.12.1993 und nicht, wie in der Bibliografie genannt, am 30.12.1998.