Christian-Geissler-Gesellschaft e.V.

„Anfrage“ im (medien-)politischen Umfeld 1962

Einführung von Dr. Christoph Classen

Freitag, 31. Mai 2024, Kino 3001, Hamburg

“Anfrage” war das erste Fernsehspiel von Christina Geißler, das – 1962 – realisiert worden ist. Als es im Februar 1962 im ersten Fernsehprogramm gesendet wurde, konnten sich die Verantwortlichen trotz des späten Sendebeginns um 21:05 Uhr nicht über einen Mangel an Resonanz beklagen. Die Seh-Beteiligung betrug nach den damaligen Infratest-Messungen 40 Prozent. Das muss man allerdings vor dem Hintergrund sehen, dass es damals nur zwei Fernsehprogramme gab. Das war also kein völlig ungewöhnlicher Wert. Es gab damals noch eine Bewertungsskala, auf der das Stück mit der Bewertung „+ 2“ auf einer Skala von „– 6“ bis „+ 6“ abgeschnitten hat, also mit einem mittleren Wert, wobei sich vor allen Dingen eine hohe Standardabweichung abgezeichnet hat: „Anfrage“ polarisierte, es gab eine deutliche Tendenz zu sehr guten und zu sehr negativen Bewertungen. Es gab auch einige negative, ablehnende Zuschriften an den Sender, die aber durchweg vergangenheitspolitisch motiviert waren, nach dem Motto: „Es muss jetzt auch mal gut sein“, also diese Schlussstrichforderung, und es kamen deutlich antisemitische Stereotype, etwa „diese Juden …, das wisse man ja, wie die seien“ und so weiter. Die avantgardistische Gestaltung der Inszenierung spielt in den Briefen überhaupt keine Rolle, anders als in den Kritiken.

Die Resonanz der Fernsehkritik war ebenfalls sehr breit. Der Pressespiegel beim NDR umfasst 20 Seiten. Es gab relativ viele wohlwollende Kritiken, die sowohl Geisslers mutigen Ansatz im Hinblick auf die Vergangenheit, die sogenannte Vergangenheitsbewältigung, wie das damals hieß, lobten, als auch die als konsequent und sehr eindringlich beschriebene Inszenierung durch Egon Monk, den Leiter der Hauptabteilung Fernsehspiel beim NDR. Es gab auch Kritik, und die betraf sowohl das Thema als auch die Umsetzung.

„Am Donnerstag spielte das Fernsehen mal wieder deutsches Gewissen“, schrieb die Münchner Abendzeitung. Die Kölnische Rundschau war sogar noch deutlich negativer. Sie schrieb: „Bei Geissler mischt sich unverdaute Vergangenheit mit schlecht reportierter Gegenwart. So einfach war und ist es nicht, wie dieser terrible Simplificateur es darstellt.“ Der Vorwurf, die Väter schwiegen über die NS Zeit, sei an den Haaren herbeigezogen, schrieb die Berliner Tageszeitung Der Tag und berief sich auf eine Vielzahl von Publikationen, die es ja zum Nationalsozialismus gebe. Dabei unterschlug sie deren häufig apologetischen Charakter. Immer wieder zieht sich das Klischee des „zornigen jungen Mannes“ bezogen auf Geissler durch die Kritiken. Die Anlage als eine moralische Anklage der Väter, also die Inszenierung eines Generationskonfliktes, war durchaus nicht unumstritten, das war, glaube ich, auch damals noch nicht so etabliert. Es gab relativ viel Kritik an dem didaktischen Stil und der Inszenierung als politisches Lehrstück in der Tradition von Brecht, die bisweilen als arrogant, bevormundend oder aber emotional unwirksam kritisiert wurde.

Indirekt verweist diese große Resonanz in den Medien auf die gestiegene Bedeutung des Fernsehens als neues Leitmedium der 1960er Jahre. Inzwischen erreichte es ein Millionenpublikum. Entsprechend große Geldmittel standen nun zur Verfügung, und es emanzipierte sich von den überkommenen, aus anderen Medien übernommenen Formaten wie dem Hörspiel oder dem Theaterschauspiel. Egon Monk, der früher Mitarbeiter von Brecht am Berliner Ensemble war, der also als neuer Leiter der Fernsehspielabteilung beim NDR aus dem Osten kam, hatte einen regelrechten Spielplan aufgestellt, um das neue Medium in den Dienst der Aufklärung, der Emanzipation, wie er sie verstand, zu nehmen. Bei diesem Plan spielte Christian Geissler am Anfang als NDR-Hausautor eine Schlüsselrolle. Die gestiegene Bedeutung des Fernsehens hatte aber auch eine Kehrseite. Sie führte nämlich zu vermehrten politischen Durchgriffen und einem stärkeren Interesse der politischen Parteien an diesem Medium, das zuvor, in den 1950er Jahren, noch nicht so stark war. Die Stichworte dazu kennen sie alle, sie lauten „Ausgewogenheit“ oder „Rotfunk“ und Monk und Geissler haben das zu spüren bekommen.

1960, diese Zeit um die Jahrzehntwende, war nicht nur die Zeit einer gestiegenen Bedeutung des Fernsehens und einer Emanzipation des Fernsehens von seinem Vorläufermedien, sondern es war auch eine Zeit des Umbruchs in der sogenannten Vergangenheitsbewältigung. Es war die Zeit, in der die strafrechtliche Aufarbeitung des Nationalsozialismus begann. Der erste große Prozess war der sogenannte Ulmer Einsatzgruppenprozess von 1958, der auf eine sehr bezeichnende Art zustande gekommen ist: Es hatte nämlich ein ehemaliger Angehöriger des öffentlichen Dienstes auf Wiedereinstellung geklagt, und dabei kam heraus, dass er bei Massenerschießungen von Einsatzgruppen in der heutigen Ukraine beteiligt war. 1960 fand der Eichmann-Prozess in Jerusalem statt, zum ersten Mal mit wirklich großer, auch internationaler medialer Begleitung. Auch der NDR hat diesen Prozess begleitet: Zwei Redakteure aus dem aktuellen Bereich haben über diesen Prozess in über zwanzig Folgen unter dem Titel „Geschichte vor Gericht“ berichtet. Ab 1963 – das wissen Sie –begann dann der Frankfurter Auschwitz-Prozess.

Ein weiterer Faktor war die Thematisierung des Nationalsozialismus von außen. So gab es seit Ende der 1950er Jahre umfangreiche, geplante Kampagnen der DDR, die vor allem personelle Kontinuitäten von führenden Persönlichkeiten in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft in der Bundesrepublik skandalisiert haben. Es gab dort zwei Schauprozesse gegen Hans Globke, den Chef des Kanzleramtes unter Adenauer und als Jurist Kommentator der Nürnberger Gesetze, sowie gegen Theodor Oberländer, den Vertriebenenminister, der eine Einsatzgruppe in der Sowjetunion geleitet hatte. Hinzu kam ein umfangreiches „Braunbuch“, das in der DDR herausgebracht wurde und in dem sehr viele Nazi-Karrieren von Leuten, die nach wie vor oder wieder eine große Rolle in der Bundesrepublik spielten, beschrieben wurden. Ferner gab es Skandale, die nichts mit den DDR-Kampagnen zu tun hatten: Etwa Hakenkreuzschmierereien am Kölner Dom Ende der 1950er Jahre und Fälle von Nazis, die unter falscher Identität lebten, etwa den eines Euthanasiearztes in Schleswig-Holstein, der als psychiatrischer Gutachter wieder arbeitete und dort unter falschem Namen agierte, obwohl sein direktes Umfeld offensichtlich wusste, wer er eigentlich war.

Hinzu kam eine Entwicklung, die nicht direkt damit zu tun hatte: Es bildete sich zunehmend so etwas heraus wie eine kritische, unabhängige Medien-Öffentlichkeit. Ich nenne nur ein Stichwort: die Spiegelaffäre von 1962, mit der dann endgültig klar war, dass die mediale Unabhängigkeit über so etwas wie „Staatsraison“ geht. Für die Thematisierung des Nationalsozialismus bedeutete all das eine Polarisierung des Diskurses. Es bedeute also nicht, dass der Nationalsozialismus in der Gesellschaft fortan durchweg kritisch betrachtet worden wäre, sondern es kam immer mehr zu Konfrontationen und zu Skandalisierungen. Er war ein heiß verhandeltes Thema.

Genau in dieser Situation erschien „Anfrage“, zunächst 1960 als Roman veröffentlicht. Christian Geissler hat sich als Autor selbst, glaube ich, gewundert, wie groß das Interesse beim Verlag war, das Buch zu drucken. Es  hat auch gleich eine relativ hohe Auflage erzielt, und dann wurde es schnell vom Fernsehen verfilmt. Die Produktionsgeschichte ist allerdings kurios, denn eigentlich sollte „Anfrage“ bereits im Herbst 1961 gesendet werden – es war alles schon angekündigt in den Programm-Zeitschriften – und wurde dann ganz kurzfristig und ohne Begründung abgesagt. Es gab dann Spekulationen in den Medien, erst sehr viel später kam der Grund heraus: Die Inszenierung durch Hannes Dahlberg hatte Egon Monk als Chef der Abteilung missfallen: Dahlberg habe das im Stil eines UFA-Problemstücks inszeniert, also wahrscheinlich sehr betulich, und damit die Aussage des Films komplett konterkariert, so hat Monk es später zu Protokoll gegeben. Da es sich für ihn um eins der Leuchtturmprojekte in der von ihm ja noch nicht so lange übernommenen Abteilung handelte, hat er kurzerhand die bis zum Rohschnitt fertiggestellte Fassung in die Tonne getreten – die Kosten sollen bis dahin angeblich 200 000 DM gewesen sein – und das Stück selbst neu inszeniert. Auch das Drehbuch hat er persönlich neu geschrieben, zusammen mit dem später dann als Hitler-Biograf bekannt gewordenen Joachim C. Fest. Beide tauchen als Drehbuchautoren in den offiziellen Credits nicht auf.

Diese neue Inszenierung, die wir gleich sehen werden, war eine echte Low-Budget-Produktion. Angeblich soll sie nur ungefähr 40 000 DM gekostet haben, das waren genau die Kosten, die für die Endfertigung der ursprünglichen Version vorgesehen waren. Das heißt, Monk ist angeblich innerhalb des Budgets geblieben. Die extrem karge Inszenierung im Stil eines Brecht’schen Lehrstücks hatte also darin einen, wenn Sie so wollen, auch sehr pragmatischen Grund. Allerdings, das werden Sie sehen, ist es eben nicht einfach ins Fernsehen übersetztes episches Theater, was Monk inszeniert hat. Es ist schon Fernsehen, denn die Studioaufnahmen auf einer kargen Bühne wechseln sich ab mit Außenaufnahmen, mit einer Handkamera gefilmte Außenaufnahmen, die sehr stark an aktuelle journalistische Berichterstattung erinnern, mit Footage etwa aus dem Bundestag und einer Sequenz aus dem ehemaligen KZ Dachau, einer längeren Sequenz, die noch mal einen eigenen Stellenwert innerhalb des Films hat. Ins Bild kommt dabei auch die berühmt berüchtigte Gaststätte „Zum Krematorium“, die Anfang der 1960er Jahre auf dem Gelände noch existierte.

Gleichwohl, Monk hat den Roman, die ursprüngliche Romanfassung, regelrecht skelettiert, wie Michael Töteberg das genannt hat. Es gibt keine Einführung, es gibt keine Rückblenden, die gesamte Figurenzeichnung ist entfallen. Wichtige Figuren des Romans wie der kommunistische Kollege des Protagonisten, sind ebenfalls weggefallen. Jede naturalistische Realitätsanmutung wird konsequent vermieden. Auch das Ende ist anders als das des Romans: Im Film könnte jeder der Täter gewesen sein und man kann annehmen, dass Monk wohl auch genau auf diese Botschaft hinauswollte.

Noch ein eine letzte Bemerkung: Geisslers Karriere beim Fernsehen war über die ganze Zeit begleitet von Problemen mit Zensur. Und das hat es ihm irgendwann, glaube ich, auch verleidet. Und diese Schwierigkeiten der Zensur gab es tatsächlich auch schon bei diesem allerersten Fernsehspiel. Egon Monk und sein Regieassistent Rolf Busch hatten Bildkollagen vorgesehen, in denen, ganz kurz ganz schnell geschnitten, aktuelle Motive aus Politik und Werbung mit Symbolen aus dem NS und allem Möglichen wild durcheinander gemischt waren – also wenn man so will: Probleme der Bundesrepublik, der Konsumgesellschaft und des Nationalsozialismus –, um die Aktualität der, wie Monk es nannte, „triebhaften Vergesslichkeit“ der bundesrepublikanischen Gesellschaft zu illustrieren.

Nach dem, was wir wissen, scheiterte dies an der NDR-Intendanz. Obwohl die Szenen bereits existierten, also gefilmt oder zusammengeschnitten waren, durften sie nicht verwendet werden. Über den Hintergrund kann ich nur mutmaßen. Ich habe aber eine Theorie: Ich glaube, dass da die damaligen DDR Kampagnen des „Ausschuss für Deutsche Einheit“ unter Albert Norden eine Rolle gespielt haben. Denn dort wurde die Bundesrepublik stets als im Kern noch immer faschistische Gesellschaft dargestellt, mit sozusagen demselben Personal, das oberflächlich demokratisiert sei, und vor allen Dingen als eine Gesellschaft, die lediglich an der Oberfläche mit einer Art Konsumglanz zu Ablenkungszwecken dekoriert sei: also im Kern Faschismus, äußerlich irgendwie Konsumgesellschaft. Das war die Botschaft der DDR Richtung Bundesrepublik in dieser Zeit, und genau so hätte man dann auch diese Kollagen verstehen können. Ich vermute, dass genau in dieser Provokation der Grund lag, aus dem sie von der Sendeleitung verboten worden sind.

Kommentare sind geschlossen.

DSGVO Cookie Consent mit Real Cookie Banner